Alhamdulillah, mir geht es schlecht.

Ich wache am Morgen auf und ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass ich meine 60 Wecker (6 Wecker die jeweils 10x klingeln) nicht gehört habe.
Es ist weit über der Zeit, an der ich eigentlich wach sein wollte. Zum jetzigen Zeitpunkt wollte ich schon längst in der Bibliothek inmitten meines Lernchaos stecken.

Ich wache also voller Wut und etwas Enttäuschung über mich selbst auf, da das in der Prüfungsphase immer so ist. Ich nehme mir viel vor, leiste aber wenig. Das bin nicht ich.

Während meines Einkaufs für die nächsten Tage dann, werde ich von Kassierer blöd angemacht, ignoriere es aber und bin aus Trotz viel freundlicher als sonst und verlasse den Laden. Schon wieder habe ich zu viel gekauft und mich nicht an meine Einkaufsliste gehalten – sprich zu viel Geld ausgegeben.

Ich laufe Nachhause und bereite mir was zum Essen zu. Brötchen mit Tomate und Naturjoghurt. Mein ausgewogenes Frühstück, das in dem Fall Spätstück heißen sollte, sind Brötchen mit Tomaten und Naturjoghurt. Ich wollte meinem Körper eigentlich Gutes tun mit Sport und guter Ernährung.
Ich bin mit bewusst darüber, dass das First-World-Problems sind, doch wenn ich die Möglichkeit habe, wieso nicht nutzen? Bin ich durch die Möglichkeiten die ich habe nicht noch mehr in der Pflicht meinen Körper gut zu behandeln?

Als nächstes packe ich meine Sachen um in die Uni zum Lernen zu gehen. Es schneit. Ich rutsche aus, fliege hin und tue mir weh. Im gleichen Moment läutet mein Handy: Breaking-News: Der Stern schreibt: „Islam und Europa: Der ewige Zorn – Von Napoleon bis zu den Anschlägen von Paris – 200 Jahre blutige Konfrontation.“

Daraufhin läutet das Handy noch einmal – meine Mutter: „Kommst du dieses Wochenende? Du warst lange nicht mehr da.“ Es ist Prüfungsphase und zwischen Zeitung lesen, daran kaputt gehen, Selbstfindungsprozess und Menschen verlieren, die mir lieb waren, vernachlässige ich auch noch meine Familie, um nach Jahren evtl. einen Wisch in die Hand zu bekommen, auf dem „Bachelor Kindheitspädagogin“ steht.

Ich bin verletzt: Ich spüre, dass mein Knie blutet vom Sturz vorhin. Ich wurde vom Kassierer blöd angemacht, wahrscheinlich die Folgen solcher Zeilen wie vom Stern heute wieder, und ich habe meine Familie vermisst. Dazu lastet der Druck des sehr wichtigen Wischs „Bachelor Kindheitspädagogin“ auf mir, den ich so unbedingt unbedingt möchte.
Mittlerweile sitze ich in der Bahn und treffe auf gute, mir sehr nahe Menschen, und auf die Frage, wie es mir denn ginge, antworte ich: „Alhamdulillah (Allah sei Dank/Lob sei Allah), gut! Und euch?“ Ich lächle über das ganze Gespräch hinweg, denn das kann ich gut, und meistens wirkt es auch unglaublich überzeugend. An der Uni angekommen sitze ich im Uni-Café mit Kommilitoninnen, die nicht verschlafen haben, nicht von Stern-Artikeln betroffen sind und deren Eltern sie nicht angeschrieben haben. Sie sitzen, lachen ausgelassen bei einer Tasse Tee und haben ihr Arbeitspensum schon fast erreicht. Auf die Frage, wie es mir denn ginge, antworte ich: „Danke, gut! Und euch?“ und sie antworten dasselbe. Wie ihr Tag wohl vorher verlaufen ist?

Jedes Mal, wenn ich so antworte, zerbricht etwas in mir.

Und ich stelle mir die Frage: Es geht Menschen schlecht. Auch hier in Deutschland. Denn nur, weil wir im Überfluss leben, heißt es nicht, dass wir keine Seele haben, die schmerzen kann. Wieso ist es gesellschaftlich nicht angesehen, mit „mir geht es nicht so gut.“ zu antworten. Wieso erwarten wir ein Lächeln? Immer, überall, von jedem.

Schlimmer ist es noch, wenn ich muslimischen Geschwistern etwas vor spiele.
„Alhamdulillah, mir geht es schlecht“ zeugt doch nicht von Undankbarkeit, oder? Für mich zeugt es vielmehr von menschlichen Gefühlen und Phasen, die jeder, wirklich jeder einmal hat! Es zeugt von Mut, von Ehrlichkeit und von Respekt gegenüber dem anderen, denn wieso sollen wir Menschen anlügen?

Es ist gesellschaftlich nicht akzeptiert, schwach zu sein und in manchen kulturellen Rahmen wie z.B. im türkischen oder arabischen zeugt lange „Schwäche“, auch „Depression“ genannt, von unzureichendem Iman*. Und ich erinnere mich, wie ich mich intensiv mit der Koran-Sure „Ad-Duha“ auseinander gesetzt hatte, weil ich wissen wollte, wieso sie so sehr für mich geschrieben scheint. Auch der beste Mensch unter allen Menschen, der Prophet Muhammad (saw). war traurig und fast schon in einer depressiven Phase. Er hatte Angst, dass er die Verbindung zu seinem Liebsten, seinem Herrn verliert.

Der Mensch aller Menschen hatte Angst.
Ob er in dieser Phase seines Lebens auf die Frage „Wie geht es Dir?“ wohl mit lächelndem Gesicht „Alhamdulillah, gut!“ geantwortet hat?

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Nachtrag: Die Dankbarkeit ist ein elementarer Bereich in meinem Glauben. Dieser Text soll nicht die Zulässigkeit der Undankbarkeit darstellen.Sie soll zeigen, dass es unter den Menschen mehr Akzeptanz dafür geben sollte, dass es schlechte Zeiten gibt und dass das okay ist.Das symbolisiert Authentizität und lässt zu, dass Menschen dazu stehen.Die Tatsache des Leidens anzunehmen lernen und nicht verdrängen und somit sich selbst und andere belügen. Dies alles ist solange in Ordnung wenn es im Rahmen des Zulässigen und des nicht-Undankbar-Seins geschieht.

Sure Ad-Duha findet ihr hier:
https://esimmasallah.wordpress.com/2014/02/10/trost/

*Islamologisch ist Iman ist die  Verinnerlichung der gesamten Inhalte dessen, was der Gesandte Muhammad (ALLAHs Segen und Frieden mit ihm) als abschließende Offenbarung definitiv für alle Muslime verkündete. (Amir Zaidan)