„Scheiß Ausländer!“, sagte der Kanake zum Flüchtling.

„Diese dreckigen Ausländer, Alter! Die sollen sich verpissen! Sie sind dreckig, haben keine Manieren und sie stinken. Ich will sie nicht vor meiner Tür haben!“, sagt er, mit seinen 18 Jahren. Er, Sohn türkischstämmiger Eltern, über Flüchtlinge die in die Nachbarschaft ziehen sollen.

„Geh bloß nicht mehr am Abend alleine raus, meine Tochter! Ihnen kann man nicht trauen. Sie sind bestimmt krank im Kopf, nach allem was sie erlebt haben. Rede nicht mit ihnen, schau auf den Boden wenn du sie siehst, und wenn sie dir entgegen kommen, dann wechsle am besten die Straßenseite. Sie sind weit weg von ihren Frauen und denken bestimmt, dass die europäischen Frauen alles mit machen. Ah, ah! Sie tun mir ja schon Leid, aber ich habe Sorge um meine Töchter!“, sagt sie und zupft ihr Kopftuch zu Recht. Sie, mit 12 Jahren als Tochter eines Gastarbeiters nach Deutschland gekommen.

In der Kleinstadt meiner Eltern wurden Notunterkünfte für Flüchtlinge aufgestellt. Ein paar Zelte am Ende der Stadt, nahe Autobahnauf-und ausfahrt. Sie, die „Flüchtlinge“ sehe ich zum ersten Mal, als mein Cousin mit seinem BMW an ihnen vorbei fährt um sie mir zu zeigen. Wie als würden wir in den Zoo fahren um Tiere zu begutachten. Sie sitzen mit ein paar Flaschen in der Hand unter einem Baum und winken uns zu als wir an ihnen vorbei fahren. Sie tun nichts. Sie sitzen einfach nur dort, unterhalten sich und trinken etwas.

Ich finde die Reaktionen der Personen mit „Migrationshintergrund“ erschreckend! Ich bin schockiert, empört und tottraurig, als ich höre, wie sie über die Flüchtlinge sprechen. Ich möchte sie an ihre eigenen Erfahrungen, ihre Vergangenheit erinnern, in der  auch sie in die damals noch Fremde gekommen sind, und man sie „Kanake, Dreckstürke/-Araber/-Albaner/-Russe (…) genannt hat. An die Zeiten in der die „Deutschen“ ihre Töchter vor den „Kameltreibern“ warnten, da sie alle sexsüchtige Geier seien. Daran, dass Ghettos errichtet worden sind, in welchen auch ich aufgewachsen bin, da niemand sie in ihrer Nachbarschaft haben wollte.

Und was ist nun? Jetzt gehören sie etwa zu den „Besseren“, zu der „weißen Rasse“, zu der „Elite“? Jetzt fahren sie gute Autos, haben deutsche Nachbarn mit denen sie Tee trinken und besitzen ein Haus. Was ist jetzt? Sind sie jetzt „besser, reiner, sauberer, wohlduftender, gebildeter“ als die Flüchtlinge? Wo bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit? Die Erinnerung an die Feindseligkeiten, die sie erleben mussten? Die Erinnerung an die Tage, an denen die Frau und die Kinder Jahre vom Vater getrennt waren, da er hier in Deutschland arbeitete um ihnen ein schönes Leben bescheren zu können?

Werden sie, werden wir, die mit dem „Migrationshintergrund“ etwa die neuen Nazis?!

Feridun Zaimoğlu: Norddeutscher mit Migränehintergrund.

zaimoglu

Am Dienstag war ich im Literaturhaus Stuttgart und habe dort eine Podiumsdiskussion und Lesung von Feridun Zaimoğlu (Schriftsteller) und Dr. Yaşar Aydın (Sozialwissenschaftler) gehört.

Der Grund für meinen Besuch an dieser Veranstaltung war Feridun Zaimoğlu. Ich habe einige Interviews von ihm gesehen und habe gemerkt, dass seine Meinung zur Thematik der Migration, der Ausländer, zur „interkulturellen“ XY dieselbe ist, wie die meine.

Auf die Einstiegsfrage der Moderatorin was denn Heimat für sie persönlich bedeute, antwortete der Sozialwissenschaftler etwas länger. Er könne diese Frage nicht mit einem Prozentsatz beantworten, meinte er. Er speise von beiden Kulturen, und fühle sich zu beiden zugehörig. Er holte weit aus, thematisierte die Ganze Identitätsthematik und sagte wieder: ich speise aus beiden Fässern.

Als die selbe Frage an Zaimoğlu gerichtet wurde, hielt er kurz inne und sagte ganz einfach und bestimmt: Norddeutschland.

Das faszinierte mich. Ich dachte mir in diesem Moment nur: endlich jemand, der nicht anfängt mit der Migrationsgeschichte, seiner innerlichen Zerrissenheit zwischen zwei oder mehreren Kulturen und seiner Opferrolle des Heimatlosen „Türken“. Ganz einfach. Eine einfache Frage. Eine einfache Antwort.

Später erzählte Zaimoğlu von seiner Jugend und den „Türken“ die damals begannen, ihre Art und Weise zu ändern, um zu den „Anderen“, in dem Falle die „Deutschen“, zu gehören. Er beschrieb ihre „wie an einem Lineal entlang geschnittenen Haare mit Seitenscheitel“ und ihre „langweilige“ Art. Er bezeichnete diese Personen als „Ethno-Zombies“, und beschuldigt sie damit, die Identitätskrise ausgelöst zu haben. So wollte er nie sein und will er nie sein.

Später als ich die Möglichkeit nach der Lesung fand, sprach ich Feridun Zaimoğlu an und bedankte mich für seine einfache Antwort „Norddeutschland“. Ich fand es beeindruckend, dass jemand sein Selbst gefunden hat, ohne die äußeren Einflüsse so sehr in sein Unterbewusstsein zu lassen, dass er auf so eine Frage, die auch für „uns mit Migrationshintergrund“ endlich einmal einfach zu beantworten sein sollte, auch einfach antwortete. Nach einer kurzen Unterhaltung darüber, fragte ich ihn, in Anlehnung an ein altes Interview, in welchem er über die Begriffe „Kanake“ und „Türke“ diskutierte, was er denn von den neuen Begriffen wie „Migrationshintergrund“ halte.
Er lächelte mich an, wartete kurz und sagte: „“Migrationshintergrund“ erinnert mich an Migräne! Finde ich scheiße.“

Ich war auch froh darüber diese Antwort zu hören.

Ich empfinde diese Begrifflichkeiten als Hindernis für eine „gelungene Integration“, wobei der Begriff „Integration“ für mich auch ein Hindernis darstellt. Diese Begrifflichkeiten sind für mich kaum was anderes als eine Differenzierungsmöglichkeit im politischen, soziologischen, ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Rahmen. Es macht es einem nicht einfach. Es macht es einem schwer.

Früher war es normal einen türkischstämmigen Menschen als „Kanaken“ zu bezeichnen. Irgendwann wurde das politisch unkorrekt und man sagte „Türke“. Auch das wurde irgendwann politisch unkorrekt und man sagte „Ausländer“. Und heute ist es der mit dem „Migrationshintergrund“.

Für mich haben die Worte „Kanake“ und „Migrationshintergrund“ keinerlei Unterschied in ihrer Bedeutung, da sie beide dasselbe anrichten: trennen, spalten, differenzieren und erschweren. Nur, das Eine wurde vor 20 Jahren gesagt, das Andere heute. Vom „Kanaken“ zum „mit Migrationshintergrund“ also. 

Zaimoğlu sagte gegen Ende dieser thematischen Auseinandersetzung in etwa: „Lieber nenne ich mich „fremdstämmig“ als „mit Migrationshintergrund“.
Ich finde das unglaublich mutig und gut.

Zaimoğlu sieht sich als Norddeutscher. Das sagt er ganz klar. So wie ich immer sagte, dass ich mich als Deutsche sehe. Er erwähnt während der Lesung oft, dass er ein großes Problem darin sehe, dass das „Deutsche“ immer das „zu Überwindende“ für die Jugendlichen dargestellt wird, oft auch von Gemeinden.

Das was er verinnerlicht hat, möchte ich in meiner Arbeit an die Jugendlichen und Kinder weiter geben. Es sich nicht unbedingt schwerer zu machen, als es schon ist, nur weil es sozio-politische Begrifflichkeiten gibt, die meiner Meinung nach bewusst zur Trennung führen sollen, sondern auf eine einfache Frage, eine einfache Antwort geben zu können. Dafür kämpfe ich.

Und wie Zaimoğlu am Dienstag mir in die Augen blickend sagte:
Ich liebe den Kampf. Kämpfen ist was tolles! Und ich sehe dir an, du hast viel gekämpft und kämpfst gerade in diesem Moment. Und dein Kampf wird noch lange gehen und er wird nicht einfach sein. Dafür wünsche ich dir viel Kraft. Aber der ständige Traum von Harmonie ist nicht real. Kämpfen – kämpfen ist was Echtes!“

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Foto: Deutsch Türkisches Forum Stuttgart