Ich lerne Kindsein.

Für Safiya, Hanna, Mousa und  Ali

weil sie mir zeigten, wie wertvoll das Kindsein, das Menschsein ist. 

 

Ich lerne das Kindsein. 

Ich lerne Kindsein heißt: ich lerne Menschsein.

Ich lerne sauer sein, weil mein Luftballon weg flog.

Ich lerne glücklich sein, weil ich einen neuen Ballon bekomme.

Ich lerne es, meine Empfindungen an einem Ballon fest zu machen – weil alles doch so einfach sein kann – als Kind.

Ich lerne Kindsein.

ich lerne vergeben und verzeihen.

Ich lerne bedingungslos lieben.

Ich lerne lachen bis mir der Atem weg bleibt.

Ich lerne weinen bis ich in den Schlaf falle.

Ohne mich für etwas zu schämen.
Denn ich bin Kind – ich habe Gefühle.

Ich lerne Kindsein.

Ich lerne  die Wahrheit sprechen; egal wer vor mir steht.

Ich lerne Aufgeschlossenheit und   Akzeptanz gegenüber alles und jedem. 

Ich lerne es keine Angst zu haben vor Fragen. Sie zu stellen und sie gestellt zu bekommen. 

Und ich lerne keine Angst vor den Antworten zu haben. 

Ich lerne Kindsein. 

Ich lerne Mut. 

Ich lerne Ehrgeiz. 

Ich lerne blindes Vertrauen. 

Ich lerne Kindsein. 

Ich  lerne: 

fallen – aufstehen – abklopfen – weiter laufen. 

Ich lerne lieben. Ohne Angst. Ich lerne Liebe. 

Ich lerne Kindsein heißt: ich lerne Menschsein. 

 

 

(Heilbronn, 31. Mai 2014)

Die Hundert gibt es doch.

Die Hundert gibt es doch.

„Das Kind ist aus hundert gemacht.
Das Kind hat
hundert Sprachen
hundert Hände
hundert Gedanken
hundert Weisen zu denken
zu spielen und zu sprechen.

Hundert, wieder hundert, Weisen zuzuhören
zu staunen und zu lieben
hundert Freuden
um zu singen und zu verstehen
hundert Welten zu
entdecken
hundert Welten zu erfinden
hundert Welten zu träumen.

Das Kind hat hundert Sprachen
doch es werden ihm neunundneunzig geraubt.
Die Schule und die Bildung
trennen ihm den Kopf vom Körper.

Sie bringen ihm bei
ohne Hände zu denken
ohne Kopf zu handeln
ohne Freude zu verstehen
ohne Sprechen zuzuhören
nur Ostern und Weihnachten zu lieben und zu
staunen.

Sie tragen ihm auf
die Welt zu entdecken, die schon entdeckt ist
und von hundert
rauben sie dem Kind neunundneunzig.
Sie sagen ihm
dass das Spielen und die Arbeit
die Wirklichkeit und die Phantasie
die Wissenschaft und die Vorstellungskraft
der Himmel und die Erde
die Vernunft und der Traum
Dinge sind, die nicht zusammen gehören.

Sie sagen also, dass es die 100 nicht gibt.

Das Kind sagt:
Und die Hundert gibt es doch.“

Loris Malaguzzi, Reggio Emilia 1985

Raubt den Kindern nicht ihre Seele!
Lasst sie sein, was und wer sie sein möchten.
Lasst sie „Sein!“