Wer Gott/Allah hat braucht keinen Therapeuten.

Wir trinken Kaffee und reden über alles Mögliche. So wie es Freundinnen eben tun. Sie erzählt über ihre Arbeit, Familie, das Ehrenamt. Und dann ich, Uni, Familie, Ehrenamt…

Ihre Augenringe sind pechschwarz – so hatte ich sie noch nie gesehen. Ihre Augen so eng zusammengekniffen, als würden sie brennen. Sie ist ruhiger als sonst, schaut oft auf die Uhr, atmet oft tief ein – tief aus.

Im Arbeitszeugnis meines FSJ steht, dass ich eine außergewöhnliche Empathiefähigkeit habe. Ob das stimmt, das weiß ich nicht, aber ich habe gemerkt, dass mit ihr etwas nicht stimmt – und frage sie danach.

Kaum frage ich, ob denn alles ok mit ihr sei und teile ihr mit, dass sie einen sehr belasteten Eindruck mache, bricht sie in Tränen aus. Als hätte sie die ganze Zeit über nur darauf gewartet, dass sie jemand danach fragt. Sie weint und weint… und weint. Ich reiche ihr ein Taschentuch, setze mich zu ihr und lege meine Hand auf ihren Rücken.
Ich weiß, dass sie sich erst einmal ausweinen muss. Ich bin da. Das soll sie wissen. Ich bin da und es ist alles in Ordnung.

Nach dem sie sich etwas beruhigt hat beginnt sie mir einiges zu erzählen. Ihr geht es seit Wochen, gar Monaten nicht so gut. Sie hatte zu viel Stress, hat zu viel mit sich machen lassen und hat sich selbst zu sehr vernachlässigt – und so fing alles an.

Jetzt weint sie nur noch, fühlt sich schlecht und hat kaum mehr Freude an den Dingen, die sie zuvor mit Leidenschaft machte.
Nach einer Weile, frage ich sie, wieso sie sich keine professionelle Hilfe holt.

„Es ist doch okay, mal mit einer Person darüber zu sprechen, die das Jahrelang studiert hat und die evtl. wissen könnte, was nicht in Ordnung ist und noch viel wichtiger – wie man dir helfen kann. Es ist nicht schlimm zu einem Psychologen zu gehen. Du wirst auch nicht sofort als psychisch Kranke betitelt oder abgetan. Geh doch hin, rede mit einem Fachmann oder einer Fachfrau darüber, da wo du dich besser fühlst.“

Sie schaut mich mit großen, erstaunten Augen an. „Meinst du das ernst?“, fragt sie mich. Nach meinem „Ja!“ meint sie, sie wollte dies tun, doch dann habe sie sich bei Freunden und Familie Rat holen wollen und alle haben ihr gesagt, dass ihr Iman, also die Verinnerlichung des Islams einfach nur zu schwach sei, und sobald sie etwas mehr betet und im Koran liest, würde dies alles vorüber gehen.

Ich bin geschockt. Noch geschockter bin ich aber, als ich mit meiner christlichen Freundin darüber spreche und sie mir erzählt, dass das auch in ihrer Community so ist. „Dann sagen sie, du hast die Verbindung zum Vater und zu Jesus verloren, und du solltest öfter beten.“

Darf ein gläubiger Mensch nicht schwach sein? Darf ein gläubiger Mensch keine „depressive“ Phase haben?

Wieso haben gläubige Menschen immer das Bild einer „heilenden Religion“, das verstehe ich nicht. Ist es nicht ein Unterschied ob man sich Gott näher oder entfernter fühlt oder ob man einfach ein seelisches Problem hat, dass mit Gesprächen bei Fachleuten aufgehoben werden könnte?

Die Rede ist nicht von total verwirrten Menschen, welche ihre Kinder, Familienmitglieder oder andere Personen zu Hocas oder Priestern bringen, um die was-weiß-ich-was aus ihnen „holen zu lassen“, sondern ganz einfache Problematiken.

Als ich mich intensiver mit der Sure ‚Ad-Duha‘ im Koran auseinander gesetzt hatte, in der Allah zum Propheten (s) sinngemäß spricht: „Dein Herr hat dich nicht verlassen und verabscheut dich nicht.“ und mir Gedanken über den Offenbarungsgrund gemacht habe wusste ich – selbst der Gläubigste alles Gläubigen war traurig. Sehr traurig. So traurig, dass er Panik bekommen hat, Angst, und wer weiß, vielleicht das, was man heute „depressive Phase“ nennen würde, durchgemacht hat, aus Angst, etwas oder jemanden verloren zu haben, den er liebt.
Wieso darf dann die Schwester, die einfach überfordert mit ihrem Leben ist, oder der Bruder, der einfach zu viel arbeitet und eine zu große Verantwortung auf seinen Schultern liegt nicht schwach werden und sich in der Schwäche Hilfe holen?

Die Menschen, und vor allem die religiösen Menschen müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es in Ordnung ist seelisch mal etwas schwächer zu sein.

Es ist keine Schande zu einem Facharzt für Psychologie zu gehen, und mal das Gespräch bei einer neutralen Fachperson zu suchen. Es bedeutet auch nicht, dass man keine gute Ehefrau, Tochter, Studentin, Jugendgruppenleiterin oder Muslima/Christin  ist. Und auch nicht, dass man kein guter Ehemann, Sohn, Arbeiter, Leiter oder Muslim/Christ ist.

Gott, Sein Buch und Sein Weg, für den wir uns entschieden haben ist natürlich die erste Instanz, und es ist absolut nicht zu bestreiten, dass die Nähe zu Gott eine gewisse Ruhe in die Herzen der Menschen legen kann – dies wird im Koran oft erwähnt. Wenn wir rufen, dann rufen wir als erstes Ihn, denn Er hört den Ruf des Rufenden.
Aber Er gibt auch menschliche Möglichkeiten. „Wissenschaftliche“ Möglichkeiten, die in Ordnung sind, wenn man sie nutzt und uns nicht zwangsläufig von Ihm entfernen müssen.

Nachtrag: ich möchte mit diesem Artikel keinesfalls die Macht Gottes, und die beruhigende Wirkung seiner Worte auf das Herz und die Seele klein reden. Doch es gibt Situationen im Leben die kontinuierlich blöd verlaufen, an denen man sich Hilfe holen kann und sollte. Ohne sich dafür schämen zu müssen. Ebenso möchte ich nicht allen Muslimen vorwerfen, dass sie diese Meinung teilen. Meine Absicht ist es, zu sensibilisieren.