Weisheit und Unrecht.

Sie sitzt neben mir und strickt. Sie ist alt und ich liebe sie sehr. Plötzlich, aus dem Nichts atmet sie tief ein und wieder aus. Beim Ausatmen spricht sie „Audhu Billahi mina-Shaitan-nir-Rajeem, Bismillahi RahmaniRahim.“(Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem verfluchten Satan. Mit dem Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen) Ich muss lächeln. 

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Wenn wir, die Menschen, oder die Muslime eine Sache erforschen, lernen  wollen, dann lesen wir uns Texte von Imamen, Gelehrten oder sonst etwas durch und übernehmen diese. Meist ohne zu hinterfragen. Wie mich das nervt möchte ich nicht näher erläutern. Ich hatte dazu in meinem Text „Mein Hoca hat gesagt…“ genug geschrieben.  Mir geht es heute um etwas anderes. 

Oft schauen wir uns einen Sachverhalt an und versuchen diesen islamisch, also u.a. koranisch zu belegen, zu untermauern – besser; wir suchen irgendetwas, dass uns das gibt wonach uns gerade ist, damit wir raus schreien können bei Kritik: „aber das steht im Koran!“

Ich habe eine Sache gelernt: man muss, wenn man eine Sache begreifen will nach einer Sache streben und sich vor einer fürchten. 

Die erste Sache vor der man sich fürchten sollte ist das Unrecht. Zulm auf arabisch. Zulm bedeutet, dass man eine Sache von dem Platz entreißt, den Gott eigentlich ursprünglich für diese Sache vorhergesehen hatte. 

Die zweite Sache, nach der man streben sollte ist Weisheit. Arabisch Hikma. Hikma bedeutet, etwas an den Platz legen den Gott für eine Sache vorgeschrieben hat. 

Ich mache mir oft Gedanken über Gott. Über Gott und mich. Wirklich über das Wesen und meine Beziehung zu Ihm. Manchmal sitze ich da und rede einfach mit Ihm. Man könnte mich für verrückt erklären. Ich sitze in einem leeren Zimmer und rede, in irgendeinem Gefühlszustand mit „etwas,“ das man weder sehen, hören noch physisch spüren kann. Aber ich kann sagen, dass ich Gott kennengelernt habe. Irgendwie.  Nicht nur durch einen Weg, den Islam, sondern durch Verschiedene. Und mittlerweile kommen wir gut miteinander klar. 

Wenn ich mir bei einer Sache denke, was Er wohl möchte, und diese dann so umsetze, dann hoffe ich, dass ich das „Richtige“ tat und mit Hikma gehandelt habe, bzw. angewendet habe. Ich habe die Sorge Zulm zu begehen, in Zulm zu handeln. 

Mein Streben danach, etwas an dem Platz zu legen, sei es nur eine kleine Tat, den Gott für diese Sache vorgesehen hat erfüllt mich. Wenn diese Sache dann noch diesen Platz erreicht, ja dann kann ich von innerem Frieden sprechen. Denn die Sache die an dem richtigen Platz gelegt wurde, ist dann nur vollkommen und gut. Fühlen wir uns als Menschen nicht etwa unwohl, wenn wir an einem Ort sind, der eigentlich nicht der Richtige für uns ist? Ich schon. Erst wenn ich wieder dort bin, wo ich mich hingehörig fühle geht es mir gut, kann ich gut schlafen. 

Ich frage mich, wie oft wir mit in Hikma und wie oft in Zulm handelt – vor allem wenn es um religiöse Themen geht. Setzen wir die Sachen, Geschehnisse, Personen und und und an die Stellen, und leben sie auf die Art und Weise wie sie Gott vorhergesehen hat? 

Zuflucht vor dem Satan Suchen. Mit dem Namen Gottes alles beginnen ist nicht eine Sache, die man unbewusst „nur“ sprechen sollte. Sie ist eine Bewusstseinsebene, in die man eintauchen muss, damit man mit Weisheit handeln kann und dem Unrecht die Stirn bietet. 

Mögen wir alle dieses tun können. Ich – vor allem ich. 

Mit dem Wunsch, dass das Leben in Hikma gefüllt ist. Zulm weit weg von uns bleibt!

Vom Sein zum Werden.

Wir sollten beginnen das Werden zu akzeptieren, und nicht darüber traurig zu sein, noch nicht zu Sein. Werden kann schön sein, sagt man.

Der Mensch ist ständig damit beschäftigt zu Sein oder Sein zu wollen und dafür zu arbeiten, doch vergisst, dass es ein Prozess ist.
Werden, die Zeit in dem man über die Grenzen geht, seinen Horizont erweitert. Die Zeit vom Werden ist die Zeit, in der sich am meisten in und um uns tut. Wir sind auf dem Weg zu Sein, doch müssen wir erst werden.

Wir sind aber viel zu sehr darauf fixiert, dass wir zu Ende Werden wollen, somit sehen wir nur den Punkt am Ende des Weges und fokussieren nur diesen.

Damit einhergehend sehen wir auf dem Weg nicht nach rechts oder nach links. Wir beachten nicht, wer mit uns diesen Prozess des Werdens begleitet. Wir verpassen alle stellen, bei denen wir einen Halt machen könnten, um die Seele zu reifen. Wir bereuen zu wenig auf dem Weg, da wir uns unsere Fehler nicht bewusst werden wollen. Wir genießen nicht die Jahreszeiten des Prozesses, wir schätzen nicht den Frühling, den Sommer, in denen man entspannt auf der Wiese des Werdens liegt, und erkennen nicht den Winter und den Herbst als Herausforderung zum Werden. Wir erkennen nicht an was wir lieben und dass wir lieben wollen, weil es das Sein beeinträchtigen könnte.

Denn ohne zu Sein, hat das alles sowieso keinen Sinn, meint man.

Wir wollen Sein, und wenn wir dann Sind, schauen wir hinter uns, und uns fällt auf, was wir alles übersehen haben, welche Glücksmomente wir nicht bis zum Ende genossen haben, dass wir zu wenig geweint und noch weniger gelacht haben.

Und die Zeit ist nun voran geschritten, einen Weg zurück gibt es nicht, nur einen neuen Weg vom Werden zum Sein.

Also; wir sollten beginnen das Werden zu akzeptieren, und nicht darüber traurig zu sein, noch nicht zu Sein. Werden kann schön sein, sagt man.